Sprache ist Instinkt
Auch wenn ich es als Schülerin nicht wahrhaben wollte – Sprache lernen liegt in meiner Natur und ich kann mich nicht dagegen entscheiden. Konkret ist es in mir angelegt: im Gen FOX P2. Das klingt wie eine militärische Geheimnachricht, ist aber eine biologische Grundeinheit meiner Fähigkeit zu sprechen. Und wie immer – hier öffnet sich ein ganzes Universum. Das Sprachuniversum.
Sprache ist Verständigung
Das liest sich banal – und ist doch hochkomplex. Denn die Verständigung miteinander ist kein rationales Gefüge, sondern eher ein Tanz auf dem Hochseil – ein Ausloten von Balance und Gewicht, ein vorsichtiges Tasten nach festem Stand und der Resonanz für den nächsten Schritt. Im Dialog wirbeln die Worte wie dichte Schneeflocken. Unbewusst bahne ich mir einen Weg zu meinen Gesprächspartner/innen, denn ich will, dass sie mich „verstehen“.
Kleid
Meine Gesprächspartner/innen sprechen mit ihrem jeweils eigenen Universum von Wortbedeutung, Wortgefühl und Wortverständnis. So ist ein Kleid in jeder Vorstellung ein anderes Kleid – das Wort liefert ein Bild und das Bild ist nicht unbedingt Sprache, sondern wahrscheinlich ein Lieblingskleid oder ein ideales rotes Kleid. Was für ein Kleid meinen Sie denn? Und auch in der darauf folgenden Beschreibung, die einzelne Attribute des Kleids aufzählt, handelt es sich nur wieder um eine Annäherungsschleife, denn auch die Attribute rufen wieder ganz eigene Vorstellungen auf.
Rotes Kleid
Allein die Farbe Rot sagt noch nicht viel aus. Das Spektrum an Rot ist umfangreich und ein definiertes Farbspektrum sagt noch nichts darüber aus, wie jede Einzelne den Rot-Ton sieht. Nicht zufällig kommen Farben in Tönen daher – denn ihre Wahrnehmung und Bezeichnung gleicht eher einem Musikstück als einer simplen Festlegung.
Ein rotes Kleid ist sprachlich so unbestimmt wie die Zeitangabe „gleich“. „Ich bin gleich da.“ Kinder hören diesen Satz mehrmals täglich und verbinden damit sich unerträglich dehnende Minuten oder gar Stunden.
Dieses rote Kleid hier
Solange wir nicht gemeinsam vor diesem einen roten Kleid stehen, verwenden wir eine Sprache, die nur eine Idee in sich trägt. Sprachlich werden wir uns nicht auf dieses eine rote Kleid verständigen können – wir müssen die Annäherung im Konkreten machen. Die Annäherung ist eine Kategorie – rot im Allgemeinen und ein Kleid im Allgemeinen. Auf diese Kategorien bauen wir, denn sie sind ähnlich genug, um gemeinsam zu genau diesem roten Kleid zu gelangen. Dass dabei ab und zu Missverständnisse entstehen, scheint angesichts der vielen Möglichkeiten, was ein Kleid und was Rot sein kann, völlig normal.
Mein rotes Kleid
Das perfekte rote Kleid habe ich noch nicht gefunden. In meiner Vorstellung ist es aus kirschroter Seide. Das Rot der Kirschen ist das derjenigen, die im Baum meines Nachbarn reifen und auf deren Oberfläche ihr Rot sich mit dem schattigen Grün der Blätter mischt. Die Seide ist fest und fließend, nicht transparent, sondern von schwerem Fall wie dicke Tropfen eines Sommergewitters, die vom Laub fallen. Das Kleid ist auf meinen Körper geschnitten, aber ob es lange, kurze Ärmel, einen glockigen Rock oder einen tiefen Ausschnitt hat … das spielt für meine Vorstellung keine Rolle. Außer – ich würde es mir nähen lassen. Dann bräuchte die Schneiderin Anweisungen und ein Stoff müsste gesucht werden. Dieses Risiko der Festlegung gehe ich lieber nicht ein. Ich halte an meinem Bild des perfekten roten Kleids lieber als Idee fest.
Das Bild ist nicht Sprache. Es ist mehr. FOX P2 sei Dank.