Das ideologische Gemälde gehört ins Museum
Rezension zum Buch von Gisela Notz, Kritik des Familismus, Theorie und soziale Realität eines ideologischen Gemäldes.
Der Begriff Familismus mutet ungewohnt an – ich habe ihn während meiner intensiven Beschäftigung mit dem Phänomen Familie in zwanzig Jahren nicht gehört. Es stellt sich heraus, dass Familismus der exakte Begriff dafür ist, was aus der kritischen Betrachtung einer Ideologie folgt. Zwar habe ich nie Familismus gesagt, aber das Wort und seine Bedeutung haben schon gewirkt.
Ein Konstrukt erhält einen angemessenen Namen
Das erste Thema im Buch von Gisela Notz: Ein herrschendes Konstrukt erhält einen angemessenen Namen: Familismus. Er klingt sogar in die nicht gewollte Richtung positiv: Familie als Kern und Knackpunkt unserer Gesellschaft. Gisela Notz hat den Begriff nicht erfunden, sondern wiederentdeckt. Die Soziologie beschreibt Familismus als Leitform einer Sozialstruktur. So definiert, scheint er ein familiales Prinzip zu sein, das vor allem seit der Industrialisierung Sinn macht, als das Zusammenleben in kleineren Einheiten als Vater, Mutter und Kindern begann. Seine Ideologisierung und Instrumentalisierung ist ein geschickter politischer Schachzug, denn er vereint die Nähe von Mann und Frau, von Frau und Kind sowie von Ehe und Haus aufs Vorzüglichste als Mittel zur patriarchalen und nationalistischen Macht. Seine enorme Eigendynamik konnte er entwickeln aus mangelndem Widerspruch, der andauernden Ungleichheit an (Bürger-) Rechten der Frauen und einer christlich konservativen Familienpolitik, die vor allem in den 1950 Jahren enormen Aufschwung erhielt, als sie es unterließ, aus dem nationalsozialistischen Regime angemessen auf Distanz zur Mutterideologie zu gehen. Die Fortschreibung ihrer Rolle als Mutter weist Frauen noch heute eine Rabenmutterschaft zu, wenn sie ihre Kinder „fremdbetreuen“ lassen. In keinem andern Land gibt es dieses sprachlichen Ausdruck.
Die gute alte Zeit hat es niemals gegeben
Der zweite Schwerpunkt ist die ausführliche historische Einordnung von Familie und Familismus. Starke Wirkung hat der von Gisela Notz zitierte Ausspruch eines Bergbauern: „… Das von der guten alten Zeit, wie sie immer sagen, das kann man vergessen…“ (S. 30) Er räumt mit einem Satz auf mit der Vorstellung von der heilen harmonischen Großfamilie, die vor allem gerne von Familienminister/innen heraufbeschworen wird. Auch fand die „Familie“ als Begriff erst im 18. Jahrhundert langsam Eingang in das allgemeine Verständnis des Zusammenlebens, wo er dann schnell einer bürgerlichen und hierarchisierenden Definitionsmacht unterlag. Unter Anführung weiterer Beispiele zeigt Gisela Notz, wie in relativ kurzer Zeit aus verschiedensten Formen des menschlichen Zusammenlebens das Konstrukt der Kleinfamilie entstand und wie auf der ihr angedichteten „Natürlichkeit“ und „Normalität“ eine familistische Ideologie aufgebaut wurde. Untermauert wird die Gesinnung mit der Installierung der Familie als gesellschaftliche Institution, die in ihrer heteronormativen Ausgestaltung eine dominante Position neben anderen sozialen Organisationen einnimmt. Das gesamte Gemeinwesen wird einer mittlerweile vielgelebten Pluralität zum Trotz an einer einzigen Definition des Zusammenlebens festgemacht – von Politiker/innen, Wissenschaftler/innen, neoliberalen und Wirtschaftsvertreter/innen und den christlichen Kirchen.
Das, was Männern Frauen zugestehen, ist nicht das, was Frauen wollen
Drittes Thema ist die Verortung der Frauen. Für Haus, Heim und Harmonie zuständig sollen die Ehe-Frauen der Familie Halt geben. So die Vorstellung der Männer über die Jahrhunderte; zitiert wird eine lange Liste von Schriftstellern und Politikern von Friedrich Schiller (1799) über Alfred Krupp (1877) bis hin zu Konrad Adenauer (1953) und Andreas Püttmann (2013). Man erhält eine plastische Vorstellung davon, wie sich die Tradition der Platzierung von Frauen in die Familie als Teil ihrer Fremdbestimmung durch die Jahrhunderte zieht. Das am stärksten und längsten gebrauchte Argument war und ist die „natürliche“ Ordnung der Dinge – eine aus Kritikerinnensicht interpretierte und konstruierte Ordnung, die im Zweifel nicht einmal ihren Namen verdient.
Die Liste der Kritiker/innen und Wegbereiterinnen ist nicht weniger lang, auch wenn ihr Einfluss auf das gesellschaftliche Gefüge bei weitem nicht so groß war und ist: Von Olympe des Gouges (1770) über Luise Otto (1866) und Clara Zetkin (1906) bis hin zu Simone de Beauvoir (1949), Judith Butler (2003) und Angela McRobbie 2013. Ich füge hinzu: Gisela Notz (2016).
Die Medien: Gefällt-mir macht Kritik hinfällig
Warum auch heute noch, 2016, das konstruierte Idealbild der Familie in den Köpfen der Jugendlichen geistert (Shell-Studien) und sich immer neu manifestiert, darauf weist Gisela Notz in diesem Abschnitt hin: „Betty Friedan machte darauf aufmerksam, wie die tief verwurzelten Vorstellungen von den Aufgaben einer Frau und Mutter in der Familie z.B. durch die Werbung und damit durch die Konsumgüterindustrie unterstützt und manipuliert wurden. „Das Problem ohne Namen“ nannte sie die Ideologie, die dahinter steckte.“ (112/113) Das war in den 1960er Jahren. Ich schließe mich der Einschätzung von Gisela Notz an, wenn sie formuliert: „Hochaktuell ist Firestones Analyse, nach der es das protektionistische, familialistische System ist, das Menschen ohne Familie immer wieder ausschließt.“ (116) Sowohl Firestone als auch Butler haben diese Art der Ausgrenzung (neben anderen wegen Geschlecht, Rasse, Behinderung usw.) eindrucksvoll belegt. Das Muster des Aussortierens aus dem eigenen Weltbild und aus der allgemeinen Anerkennung in Gesetzen, Anschauungen und Gesellschaftsordungen liegt wie ein feinmaschiges Netz über dem Horizont des täglichen Lebens. Die Medien haben ihre Verstärkerfunktion mächtig ausgebaut und wenn man sich anschaut, wer „die Medien“ sind, dann sind es ausschließlich Großkonzerne und die öffentlich Rechtlichen, die ihre weichgespülten und familistischen Formate in die Welt senden. Spätestens seit es den Like-Button in den Social Media gibt, ist auch Kritik kein Thema mehr – mit Ausnahme vielleicht von einigen Blogs, die aktuelle Ereignisse und Themen kritisch hinterfragen und kurzfristig eine (kleine) Gegenöffentlichkeit herstellen.
Fazit
Was vom Titel zunächst wie Nischenschelte klingt, nimmt in der Lektüre das Ausmaß fundierter Gesellschaftskritik an. Gisela Notz zeigt am Beispiel des Familismus, wie sich die Definitionsmacht der herrschenden Klasse über alle Entwicklungen hinwegsetzt und wie es ihr in der Regel auch gelingt. Das Buch nehme ich als wiederholte Aufforderung, genau auf die Mechanismen der Ausgrenzung zu achten und Gegeninitiativen zu entwickeln bzw. mich ihnen anzuschließen. Die Welt ist bunt, nicht familistisch.
Gisela Notz, Kritik des Familismus, Theorie und soziale Realität eines ideologischen Gemäldes, in: theorie.org, Stuttgart 2015