Wer oder was dann?
Dirk Baecker, Soziologe und Systemtheoretiker, macht den Versuch der Formulierung einer Soziologie des Gehirns.
Ich versuche meinerseits, seinen Versuch hier in Kurzform wiederzugeben, nachdem ich versucht habe, ihn in mein bisheriges Verständnis von Gehirn einzuordnen.
Damit nicht gleich zu Anfang der Eindruck entsteht, okay … ist ein Versuch, aber mehr nicht … schicke ich voraus: Schon die Versuchsanordnung ist ein kalorienreiches Appetithäppchen und am Ende ich bin mächtig beeindruckt vom vorläufigen Ergebnis. Vorläufig bleibt es, weil es weiterhin unbeantwortete Fragen gibt. Allein die Annäherung ist aber auch für Gehirn-Nichtexpertinnen wie mich ein erkenntnistheoretisches Highlight.
Das Gehirn sieht, hört, riecht, schmeckt und fühlt – nur nicht sich selbst
„Das Gehirn misstraut seinen Sinnesorganen, es unterdrückt jeden direkten Stimulus.“ Was wir sehen, hören, schmecken und riechen ist die komplex aufbereitete Interpretation von Wahrnehmungen. Die wären zwar ohne Augen, Ohren, Nase und Mund nicht möglich – doch alle Sinnlichkeit wäre vergebliche Liebesmüh ohne die variantenreiche Repräsentation durch das Gehirn.
Bevor aus der Interpretation Kommunikation wird – etwa ein sprachlich formulierter Gedanke „hm, dieses hors-dœvre ist so zart, es zergeht auf der Zunge“ durchlaufen mehrfach rekursiv rückgekoppelte selbstreferenzielle nichtlinear oszillierende Prozesse die als graue Zellen benannte Hirnlandschaft, ohne dass diese Abläufe jemals hätten beobachtet werden können.
Das Gehirn hinkt hinterher
Bisher konnten nämlich die Neurowissenschaften, also die Physiologie, Biologie, Psychologie, Biochemie, Informatik und Medizin, weder Bewusstsein noch freien Willen im Gehirn lokalisieren.
Aktuell ist bekannt, dass das Nervensystem bewussten Entscheidungen einen Tick voraus ist. Woraus sich die Frage ergibt, wer denn bitte das Sagen oder die Kontrolle hat und welche Funktion das Gehirn hat, wenn es keine Führungsposition einnimmt. Im Moment scheint das, was wir als Gehirn bezeichnen eher so eine Art Kollektiv zu sein, eine WG im Oberstübchen, deren Art der Interaktion stark chaotische Züge trägt, deren Zusammenleben aber trotzdem irgendwie funktioniert.
Gehirn und Gefühle
Gefühle sind wie alle anderen Phänomene „hervorgebrachte Hervorbringungen“. Sie werden von der Hirnforschung als Moderatorinnen und Managerinnen von Situationen bezeichnet und sind in jeder Hinsicht historisch. Sie kommen und gehen, tauchen auf und verschwinden wieder. Und wie in jeder anderen Situation, hat man es auch in emotionalen Situationen mit einem „Spektrum an Möglichkeiten“ zu tun. Gefühle sind kognitiv das Ergebnis einer neuronalen und mentalen Errechnung. Sie ermöglichen eine Distanz zu uns selbst. Wobei es das Selbst als irgendeine Form von Steuerungsinstanz natürlich auch nicht gibt, es funktioniert genauso komplex wie alles andere auch.
Das Gehirn denkt nicht
Das Gehirn reagiert sensorisch und motorisch nicht auf Reize, sondern produziert unermüdlich und laufend Vorhersagen, was zu tun und was wahrzunehmen ist. „Die meisten dieser Vorhersagen werden gehemmt – das nennen wir Denken.“ Statt denken könnte man also auch sagen hemmen. „Ich hemme … also bin ich“. Dann lieber mit Dirk Baecker: „Man denkt, was man denkt, ohne wissen zu können, wie man denkt, was man denkt.“
Einen klaren Gedanken zu fassen, der die Welt erklärt, ist dabei eher die seltene Ausnahme, denn das Gehirn ist mehr mit sich selbst beschäftigt ist als mit allem anderen. Es durchforscht unablässig sein Gedächtnis, assoziiert, generiert Impulse, variiert Variablen, kombiniert Kombinationen, verwirft sie wieder, speichert sie ab, ordnet sie neu an usw. ohne dass sicher wäre, „was daran bewusst, unbewusst, intuitiv oder habituell ist.“
Das Gehirn ist …
nicht nur, es passiert auch.
Es ist eine nichttriviale Maschine, ein teleologischer Apparat, ein komplexes System, aktiv und zweckverfolgend, rückkoppelungsgesteuert, vorhersagefähig und sozial codiert. Es ist eine Struktur des Lebens, die sich im Medium von Neuronen, Hormonen und Bewusstsein operational geschlossen und strukturell gekoppelt reproduziert.
Die meisten dieser Erklärungen stammen aus der Systemtheorie, Vor- und Mitdenker/innen sind: Aristoteles, Pierre Bourdieu, Francis Crick, Warren McCulloch, Michel Foucault, Chris Frith, Peter Fuchs, Niklas Luhmann, Heinz von Förster, Gotthard Günther, Martin Heidegger, Douglas R. Hofstadter, Edmund Husserl, Wolfgang Jantzen, Immanuel Kant, Jaques Lacan, Philip Liebermann, Gesa Lindemann, Humberto Maturana, Marshall McLuhan, Vernon B. Mountcastle, Georg Northoff, Talcott Parsons, Jean Piaget, Platon, Ilya Prigogine, Gerhard Roth, George Spencer Brown, Francisco Varela, Harrison White, Ludwig Wittgenstein (Auswahl).
Was will eine Neurosoziologie?
Das Gehirn im Zusammenspiel mit anderen Gehirnen erklären. Gehirn ist nur möglich in einer Umwelt mit anderen Gehirnen, denn „die Umwelt selbst enthält keine Informationen“ (Heinz von Foerster). Das Gehirn ist sozial codiert, weil der Mensch nicht allein auf der Welt ist und das Gehirn erst in der Auseinandersetzung mit anderen in Gang kommt.
Gleichung: Gehirn =
Gehirn im Organismus = kognitives Differential der Auseinandersetzung mit einer sozialen, kulturellen, mentalen und offenen Umwelt.
Abb. Baecker (S. 219)
Das Gehirn wird als Ort vielfach betrachtet, nämlich durch teleologische (t) und variationsbereite (v) Strukturen, soziale (s) und kulturelle (k) Umwelt, Bewusstsein (m) und eine neuronale (n) sowie genetische (g) Ebene – wobei der Determinierungsgrad, das heißt die Anzahl der Freiheitsgrade, in der Reihe der Variablen von links nach rechts zunimmt.
Vorläufiges Ende
Weil jeder Begriff der Gleichung einen Rattenschwanz an Denk- und Forschungsinhalten hat, die für sich gesehen hoch komplex und vielfach schwer verständlich sind, genügt es vielleicht, einfach die phänomenale Vielfalt zu genießen – gleich einer Explosion von feinen Aromen auf der Zunge. Das Dessert steht noch aus.
Über zwei Sachen bin ich froh:
- Das Gehirn kann sich selbst nicht erkennen. Ich habe das Gefühl, dass uns das viele Unannehmlichkeiten erspart. Aber wer weiß.
- Trotz weitreichender Erklärungen stellt sich keine Nüchternheit ein: Kreativität, Unsinn, Magie und Fantasie haben nichts an ihrer Möglichkeit und Faszination verloren. Sie scheinen mir sogar wahrscheinlicher als vorher.
Alle Zitate aus
Dirk Baecker Neurosoziologie Ein Versuch (2014)
siehe auch: Dirk Baecker Blog