… tatsächlich? Wir öffnen den Schrank und nehmen ein Glas heraus, es steht dort wo wir den Platz für Gläser bestimmt haben. Zusammen mit den anderen Gläsern. Wir nennen es Wasserglas oder Weinglas, je nachdem, welchem Zweck es dient. Die Form definiert den Zweck. Das machen die Produktdesigner/innen zusammen mit der Tradition des Sprachgebrauchs, der nicht einfach vom gewöhnlichen Habitus abweichen kann und Gläserformen kurzerhand unüblichen Gebrauchsmodi zuweist. Dann kämen alle durcheinander und eine Verständigung untereinander wäre viel schwieriger.
Das Glas hat eine Geschichte
Und trotzdem: Aus der Sicht des Glases kann diese eindeutige Kategorisierung als Wasser- oder Weinglas durchaus vielschichtig sein. Natürlich unterstelle ich dem Glas kein Bewusstsein, aber das Beispiel des Glases ist übertragbar. Worauf, das können Sie selbst entscheiden.
Das Glas erzählt seine Geschichte: Du kennst mich nicht. Ich kenne mich natürlich auch nicht, denn ich bin nicht zur Selbstreflexion fähig. Am 23. Februar 2011 wurde ich in einer slowenischen Fabrik am Fließband hergestellt. Seitdem werde ich von allen Seiten kategorisiert: Bisher bin ich Artefakt, Fließbandprodukt, in der EU hergestellte Handelsware, Konsumartikel, zerbrechlicher Gegenstand, Glas, Geschirr, Trinkglas, Wasserglas, durchsichtiger Gegenstand, recyclebarer Gegenstand. Auf dem Weg von der Fabrik in das Geschäft bin ich Handelsware und als ich dann im Ladenregal stehe, ein Verkaufsartikel. Meine Designerin ist eine schlecht bezahlte uninspirierte Vertreterin ihres Berufsstands und so stehe ich hier unbeachtet im Regal, so dass ich bei den Verkäuferinnen als nicht verkauftes Objekt, als Fehleinkauf, als unverkäufliches Objekt und dann als Staubfänger gelte, kurz bevor ich dann zu den aussortierten Artikeln gestellt werde.
Elite im Schrank
In letzter Minute kauft mich eine Schnäppchenjägerin und ich bin jetzt eine Anschaffung. Meine Besitzerin entwickelt in Bezug auf meine Kategorisierung nur wenig Fantasie. Ich bin für sie schlicht ein Glas für kalte Getränke, in der Regel also Wasser, Limonade oder Milch. Nie habe ich die Ehre, als Weinglas zu dienen – diese Rolle dürfen nur die Mitglieder einer gewissen Elite im Regal über mir ausfüllen. Ein einziges Mal füllt mich ein schon leicht alkoholisierter Mensch mit Wein und befördert mich damit für kurze Zeit in den Status eines Weinglases. Ich versuche meine Sache gut zu machen, auch wenn mir die Eleganz meiner Schranknachbarn abgeht.
Nachdem ich meine Pflicht erfüllt habe, wandere ich in die Spülmaschine, dort bin ich Geschirr neben all den anderen, die gründlich durchgespült werden. Einmal benutzt mich meine Besitzerin als Spinnenfang- und -transportmittel, häufig auch als Behälter für Krimskrams, Stifte, Haarspangen und so. Einen Monat lang fungiere ich als Zahnputzbecher und danach als Zuckerdose. Das Muschelsammelglasdasein gefällt mir. Blumen- oder Petersilienvase bin ich auch schon gewesen. Einmal darf ich mit in den Wald und die Kinder benutzen mich als Kaulquappenaquarium, später bauen sie mich als gläserne Pforte mit in ihre Klötzchenburg ein. Dort überstehe ich leider den feindlichen Ritterangriff nicht, meine Scherben landen in der Recycling-Tonne. Mein nächstes Leben bricht demnächst an und ich bin gespannt welche Facetten es haben wird.
Was deutlich wird: es gibt tausende von verschiedenen Bedeutungen oder zeitweiligen Zuordnungen für eine scheinbar eindeutige Sache. Umso mehr gilt das für Personen und ihre zahlreichen Beziehungen und Verbindungen untereinander.
(Die Geschichte des Glases ist erzählt frei nach Hofstadter/Sander: Eine Minisage mit superschnellen Kategorienwechseln. In: Die Analogie, 2014.)
Du hast Imme so tolle Bilder in deinem Blog!
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Danke! Ich mache auch immer eine special Fotosession – sogar für Gläser 😉
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Eine wunderbare Geschichte für Teamentwicklungsseminare und Perspektivwechsel aller Art. Sehr nett, dass das Glas die Geschichte erzählt.
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Das freut mich 🙂 Perspektivenwechsel regen die Fantasie an und schärfen den Blick auf Details. Danke für deinen Kommentar.
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